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"Eine Kolumne auf der Homepage einer Computerfirma?" Das haben wir uns auch gefragt. Doch der Mensch lebt nicht nur vom Brot alleine, wie man so schön sagt... Diese Seite wird ungefähr alle drei Wochen aktualisiert. Über Kommentare, Inputs und Kritik an die Autorin freuen wir uns sehr!

EIN KANADIER IM GARTEN
und andere Geschichten

3. TEIL


SO EIN KÄSE!

Über die kulturellen Unterschiede zwischen Kanadiern und dem Schweizer Volk im allgemeinen wundert Bob sich heute noch sehr häufig. Was ihm allerdings manchmal noch viel mehr zu schaffen macht, ist sein Zusammenleben mit einer ganz speziellen Schweizerin in einem nicht ganz typischen schweizer Haushalt... doch wie immer erzählt er dies gleich selbst:

"Vor vier Wochen, es war an einem Mittwoch abend, kam ich todmüde von einem langen Arbeitstag nach Hause. Die Woche war bisher sehr anstrengend gewesen, und schon den ganzen Tag hatte ich mich auf etwas gefreut, auf ein ganz spezielles Ereignis - oder vielmehr müsste ich es Zeremonie nennen -, ich freute mich darauf, mich mit einem schönen Glas Rotwein und einem Stück meines allerliebsten St. Pusère* hinzusetzen und so einen hektischen Tag besinnlich zu beschliessen.
Für alle unter Ihnen, die in der hohen Kunst der Frommageologie nicht so bewandert sind wie ich: Beim St. Pusère handelt es sich um einen ausgesprochen delikaten Weichkäse, so weich, dass er auch in kaltem Zustand von seinem Verpackungspapier abgekratzt werden muss und dabei beinahe vom Messer heruntertropft. Sein Aroma dringt durch alle Ritzen und Poren und löst in seiner Strenge jede verstopfte Nase innert Sekunden. Kurz gesagt ist der St. Pusère so, wie man sich eine perfekte Frau wünscht - heftig und intensiv im Auftritt, lieblich während des Genusses und butterweich in der Konsistenz...
Ich kam nach Hause, überlebte die Stampede der Hunde und Katzen (haben Sie schon mal den Film "Jumanji" gesehen? Die Szene mit den Elefanten und den Nashörnern, die plötzlich durch das Haus stürmen? - Das war das leise Summen einer einzelnen Babyfliege verglichen mit dem Eintritt in Hartys Haus) und ging in mein Schlafzimmer. Harty war noch auf dem Weg vom Engadin nach Zürich; sie war am Tag zuvor zur Beerdigung ihres Onkels hinaufgefahren, und so hatte ich die Wohnung für mich.
Unsere Putzfrau (naja, eigentlich bezahlte ich sie ja nicht, aber es war dennoch ein angenehmes Gefühl, von "unserer" Putzfrau zu sprechen. Ich habe noch nie zuvor in meinem Leben jemanden gehabt, der für mich aufräumt, wäscht und putzt - ausser Jane, aber das ist natürlich nicht dasselbe) war da gewesen, und ich fand meine Hemden und Unterhosen auf meinem Bett vor. Ein kritischer Blick auf die Hemden bestätigte mir wieder einmal, dass diese Putzfrau einfach nicht die beste war - der Kragen war bei weitem nicht so steif, wie ich ihn gerne hatte, und den Ärmeln fehlte die klare, messerscharfe Bügelfalte, die ein Hemd so maskulin aussehen lässt... Ich seufzte, beschloss aber, Harty gegenüber nichts zu erwähnen - wie so oft übte ich mich in Geduld und Toleranz und übersah die negativen Aspekte unseres Wohnarrangements grosszügig.
Ich ging in die Küche und klemmte mir den Rotwein unter den Arm (auch so etwas, was mich an der Schweiz immer wieder erstaunt: Hier bezahle ich für eine Flasche Rotwein nur fünf Franken. In Kanada kostet dieselbe Flasche mindestens neun Franken!), machte den Kühlschrank auf und griff nach dem Käse - doch der war nicht da. Die Putzfrau hatte den Kühlschrank aufgeräumt, und alles befand sich nun an einem anderen Platz. Ich durchsuchte den Kühlschrank von oben nach unten, schaute minuziös in jeden Winkel und jedes Fach, und als ich damit fertig war, begann ich, Millimeter für Millimeter der Kühlschrankoberfläche durchzuscannen. Vergeblich - mein St. Pusère blieb unauffindbar. Und doch - ich konnte ihn laut und deutlich riechen! Also räumte ich jede einzelne Dose, jedes Konservenglas, alle Flaschen, Butter, Milch, Rahm und was auch sonst noch drin war aus dem Kühlschrank heraus, bis er völlig leer war. Ich räumte sogar in einem Anfall von Verzweiflung das Gefrierfach aus - doch der Käse war und blieb verschollen. Und die ganze Zeit über nahm ich seinen unverwechselbaren Geruch war!
Wütend schmiss ich die Dinge zurück in den Kühlschrank und begann, mich im übrigen Teil der Küche umzusehen. Ich öffnete alle Kästen, riss sogar die Schubladen auf, und schliesslich fand ich ihn. Ich fand ihn an dem Ort, an dem ich ihn am wenigsten vermutet hätte, an dem Ort, an dem ich zuallerletzt gesucht hätte - nein, hatte -, an dem Ort, an dem ich nicht einmal Hartys kleinsten Köter versorgen würde - im Abfalleimer. Ich war schockiert!! Hilflos lag er da - oder das, was von ihm übrig geblieben war -, das Verpackungspapier halb geöffnet blinzelte er mir, vollgeklebt mit kleinen Stückchen Eierschale und Papierfetzen, völlig entehrt und würdelos entgegen. Es war ein trauriger Moment.

Der Anblick versetzte mich in einen Zustand nackter, kalter Wut. Ich konnte es nicht fassen. Wie konnte diese Person, diese Kuh, diese unwissende, ungebildete, einfache Angestellte - wie konnte sie es wagen?? Wie konnte sie sich an meinem Eigentum vergreifen, meinem heissgeliebten St. Pusère, den ich fünf Tage zuvor erst auf meinem Ausflug nach Lausanne in einem Moment unwahrscheinlich glücklichen Zufalls in einem kleinen Laden an einer Ecke entdeckt, mich schlagartig in ihn verliebt und ihn umgehend erstanden hatte? Wie konnte sie es wagen, ihn auch nur zu berühren, geschweige denn, ihn tatsächlich in ihre Hände zu nehmen und fortzuwerfen? Wie konnte sie, frage ich, auch nur annehmen, dass so ein wertvolles Stück Kultur, Genuss, ja, Lebensfreude qualitativ nicht mehr ganz in Ordnung und reif für den Müll sei?
Ich musste jemandem mein unsägliches Leid erzählen. Und da niemand anderes da war, wandte ich mich Gizmo zu - dem intelligentesten der drei Hunde. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte, und er hörte mir aufmerksam zu. Ab und zu gab er ein zustimmendes "Wuff" von sich, und ich fühlte mich ein wenig verstanden. Und nachdem ich ihm die Geschichte erzählt hatte, erzählte ich sie ihm nochmals. Ich fühlte mich immer noch nicht viel besser, also holte ich meine Beethoven-CD aus dem Zimmer und drehte die Stereoanlage voll auf. Nach und nach tat die Musik ihre Wirkung, und ich konnte etwas ruhiger atmen. Als Harty zwei Stunden später nach Hause kam, hatte ich mich wieder einigermassen unter Kontrolle.

Es fiel mir schwer, meine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren, doch ich erkundigte mich höflich nach der Trauerfeier ihres Onkels. Sie erzählte mir ein wenig davon und fragte dann nach meinem Tag. Derart aufgefordert, konnte ich ihr meine Leidensgeschichte nicht länger vorhalten, und ich schilderte ihr die ganze Tragödie - wie ich mich den ganzen Tag auf den Käse gefreut hatte, wie ich am Tag zuvor extra keinen Käse gegessen hatte, um mir die Freude auf den nächsten Abend zu verdoppeln, wie ich den Verlust entdeckt hatte und wie ich mich nur dank Beethoven und mit Gizmos Unterstützung wieder hatte beruhigen können.
Sie hörte mir aufmerksam zu und meinte ernsthaft: "Es tut mir wirklich leid. Ich weiss, wieviel dir dein Käse bedeutet. Frau Liebrein hat sich aber sicher nichts böses gedacht und angenommen, er sei wohl nicht mehr gut. Können vielleicht die vielen anderen Sorten Käse, die ich für dich gekauft habe, den Verlust wieder etwas wettmachen?"
"Nein!" Wie konnte sie so etwas auch nur annehmen? Nichts war vergleichbar mit meinem St. Pusère!
"Nun denn ", seufzte sie, "dann kann ich dir nur nochmals versichern, wie leid es mir tut. Wenn du mir den Namen des Käses angibst, werde ich ihn dir gerne ersetzen."
Irgendwie befriedigte mich dies nicht. Ich suchte nach Lösungen, wie eine solche Katastrophe in der Zukunft vermieden werden konnte.
"Ich werde von jetzt an alle meine Käsesorten in eine grosse Plastiktasche geben, und auf diese werde ich schreiben: 'Nein! Don't touch!'".
Harty war damit nicht einverstanden. "Bob, das wäre doch ein bisschen unhöflich ihr gegenüber, oder? Wie wäre es, wenn du statt dessen etwas höfliches hinschreiben würdest, wie zum Beispiel 'dies gehört Bob', oder..."
"...oder 'Keep your fç%&ing hands off!'?"
"Bob, hör schon auf, das ist nicht nett."
"Nett? Sie war ja auch nicht nett, als sie meinen Käse wegwarf, oder?" Ich war empört. Offensichtlich hatte Harty nicht die ganze Tragweite der Tat dieser unsäglichen Person begriffen! Ich beschrieb ihr das ganze Szenario nochmals und betonte die besonders schlimmen Stellen.
Harty hörte mir ruhig zu und sagte nichts. Statt dessen begann sie damit, die Hunde und Katzen zu füttern. Also gab ich die Geschichte abermals zum besten, und endete mit dem Satz: "Findest du es nicht einfach unverschämt, was diese dumme Kuh gemacht hat?"
Harty wandte sich von mir ab und holte einen Teebeutel aus dem Schrank. Kurz schien es mir, als zuckten ihre Mundwinkel verdächtig - doch schon drehte sie sich mir zu und sagte: "Bob, als du mir diese Geschichte das erste und das zweite Mal erzählt hast, hat es mir für dich leid getan. Jetzt, als du sie mir zum dritten Mal erzählt hast, tut es mir immer noch leid, aber nicht mehr ganz so sehr wie vor zehn Minuten."
Das war doch wohl eine Impertinenz ohnegleichen! Und um dieser Dreistigkeit auch noch den Deckel aufzusetzen, wandte sie sich wieder dem Schrank zu und gab vor, lieber einen anderen Tee zu wollen - doch diesmal sah ich ihr Grinsen genau! Ich war sprachlos.
Nach ein paar Minuten kehrte sie sich wieder mir zu. Sie hatte sich gefasst und meinte: "Schau, Frau Liebrein hat hier vielleicht einen Fehler gemacht und den Gestank" - Gestank? So eine Frechheit! - "deines Käses falsch interpretiert. Aber sonst leistet sie doch wirklich ausgezeichnete Arbeit, und sie hat schon sehr viel gutes für dich gemacht - aufgeräumt, geputzt...."
"Ich brauche niemanden, der für mich putzt - ich kann mein Zimmer auch alleine putzen! Als Jane sich von mir getrennt hat, habe ich in Kanada meine Wohnung auch alleine geputzt - kein Problem. Sag ihr, sie soll nicht mehr kommen - ich komme auch sehr gut ohne sie aus!" So, das war wohl klargestellt!
"Ja, Bob, aber ich nicht - ich wüsste nicht, woher ich die Zeit nehmen sollte, auch noch die Wohnung in Ordnung zu halten. Ausserdem hat sie dir immer die ganze Wäsche gewaschen und die Hemden gebügelt..."
Ah ja? Da hatte ich doch auch noch etwas dazu zu sagen!
"'Gebügelt' würde ich das wohl eher nicht nennen. Ich habe da vielleicht einen höheren Standard als du, aber diese Frau kann mit Sicherheit nicht bügeln!"
Mit diesen Worten stand ich auf, drehte mich um und lief davon. So etwas musste ich mir schliesslich nicht bieten lassen, oder?
Ich hörte Harty noch in ruhigem, aber unüberhörbaren Tonfall sagen: "Weisst du, Bob, wenn du irgendwann einmal Zeit haben solltest, könntest du vielleicht darüber nachdenken, dass du immer noch Gast in diesem Haus bist, und dass du als Gast auch ein gewisses Mass an Höflichkeit an den Tag legen könntest?"
Höflichkeit? OK, konnte sie haben! Ich öffnete die Türe zu meinem Schlafzimmer (denn nichts macht ein letztes Wort so endgültig wie eine effektvoll eingesetzte Türe), trat ein, drehte mich um und holte zu meinem Todesstoss aus: "Gut, in Ordnung. Ich finde es wunderbar, dass sie den Käse weggeworfen hat. Ich bin hell begeistert darüber. Wenn es nach mir ginge, sollte sie das jeden Tag wieder tun. Ich werde mich nächstes Mal herzlichst dafür bedanken und ihr die Füsse küssen. Meine Hemden aber, die bügle ich selber immer noch viel besser."
Und damit warf ich die Türe ins Schloss.

*Name durch die Redaktion geändert



EIN KANADIER IM GARTEN

Am nächsten Morgen fand ich einen Brief am Spiegel im Badezimmer. Harty stellte mir ein Ultimatum - entweder ich würde mich wieder so anständig benehmen, wie ich es in der ersten Woche getan hatte, oder es würde sich was ändern - sie sei 'nicht mehr bereit, mein Benehmen hinzunehmen' und wolle 'endlich wieder ihren Frieden in ihren eigenen vier Wänden'. Von meinem Frieden war natürlich wieder einmal nicht die Rede!
Was genau die Konsequenzen sein würden, hatte sie nicht geschrieben, aber ich konnte es mir lebhaft vorstellen - sie würde sich wahrscheinlich in eine heulende und streitende Nervensäge verwandeln und mir das Leben zu Hölle machen (ganz kurz tauchte auch der Gedanke auf, sie könnte mich vielleicht noch vorzeitig rauswerfen, doch ich verwarf ihn sogleich wieder... schliesslich hatte ich ja kein Geld... und sie fand mich eh unwiderstehlich... nein, rauswerfen würde sie mich auf keinen Fall, da war ich mir absolut sicher.)

Ich wollte nicht noch mehr Ärger, als ich schon hatte (dank dieser dummen Putzfrau und ihrer Ignoranz!), und so riss ich mich die nächsten paar Tage zusammen. Allzu schwer gestaltete sich das nicht - Harty kam immer erst nach Hause, wenn ich schon lange im Bett war, und wenn ich aufstand, schlief sie zumeist noch.

Am darauffolgenden Samstag abend ging sie mit Joey zum Essen aus. An den vergangenen Wochenenden hatten wir immer gemeinsam etwas unternommen - entweder wir gingen aus, oder sie kochte was und wir genossen einen gemütlichen Abend. Dieses Mal jedoch blieb ich alleine zu Hause. Ich fühlte mich auch ein bisschen alleine - ich vermisste meine Jane sehr, und ich hatte Heimweh nach Kanada, nach meiner Sprache, nach meinen Freunden... ich beschloss, mal wieder so einen richtigen kanadischen Männerabend zu machen. Es war zwar nur ein einziger Mann anwesend - nämlich ich -, aber "was soll's", sagte ich mir, schliesslich kam es nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität der Männer (respektive des Mannes) an! Und wenn ich mich da so in der Schweiz umsah - diese schweizer "Männer" waren wirklich eine Gattung für sich. Es fing damit an, dass sie einkaufen gingen, ihre Wäsche manchmal auch dann selber wuschen, wenn sie eine Freundin hatten, und sogar im Haushalt das WC selbst putzten! Aber das war ja bei weitem noch nicht alles. Ziemlich schräg reingekommen war mir, dass sie es offenbar nicht merkwürdig fanden, mit einem farbigen Regenschirm gesehen zu werden. Einige hatten als ständige Begleiter ihren PSION im Lederetui, was mir nur schon beim Anblick ein Schaudern den Rücken hinab gleiten liess (das sah echt so was von schwul aus! Ich persönlich hatte ja nichts gegen Homosexuelle, im Gegenteil, einige meiner besten Freunde waren schwul, oder hatten zumindest beste Freunde, die schwul waren - aber es sollte doch immer klar sein, dass ich nicht so einer war), und das nackte Entsetzen packte mich, als mir ein Schweizer erzählte, er fände es doch wohl überhaupt nichts besonderes, beim Einkaufen auch eine Packung Tampons für seine Frau in den Wagen zu legen. Ein wahrer Mann kauft doch um Himmels willen keine Tampons ein! Ich gestand ihm dann zwar sotto voce, dass Jane mich nach sieben Jahren auch schon so weit gebracht hatte, einmal im letzten Sommer und einmal gegen Ende des vorletzten Winters, für sie eine Packung kaufen zu gehen, beide Male als sie krank war und mit hohem Fieber das Bett hüten musste (ob ich wohl bei den schweizer Frauen damit Pluspunkte holen könnte?).
Am merkwürdigsten aber schien mir (und scheint mir heute noch) nicht eine spezielle Verhaltensweise der schweizer Männer, sondern vielmehr das völlige Fehlen einer solchen - ich hatte (und habe) in den Wochen seit meiner Ankunft in der Schweiz noch kein einziges Mal einen schweizer Mann mit Zigarre in der einen und Bier in der anderen Hand gesehen. (Ich will hier niemandem auf die Füsse treten - aber habt ihr schweizer Männer denn kein Bedürfnis danach, euch einmal pro Woche volllaufen zu lassen und dabei ein paar grosse, dicke Dinger zu rauchen? Was seid ihr denn für Männer??).

Ich setzte meinen Cowboy-Fischerhut auf, nahm meine Zigarren, goss mir ein grosses Glas voll und ging hinaus in den Garten. Ich setzte mich auf den Gartenstuhl, legte die Füsse auf den Tisch und zündete die Zigarre an. Ah - welches Aroma! Ich paffte genüsslich vor mich hin und betrachtete die Sterne. Es war eine klare Nacht, und ausser ein paar quakenden Fröschen war es ziemlich ruhig. Zu ruhig - kein Mensch war da, um mit mir anzustossen, kein Gejohle, keine zweideutigen Witze... irgendwie war es noch nicht ganz die richtige Stimmung. Ich ging wieder ins Wohnzimmer, warf eine CD ein, drehte die Lautstärke voll auf und öffnete die Fenster. Zurück im Garten angelangt, setzte ich mich wieder hin, Füsse auf dem Tisch, und lehnte mich zurück.
Ob die Nachbarn sich wohl bei Harty beschweren würden? - "Was soll's", sagte ich wieder - ich war nicht in der Stimmung, mir Gedanken darüber zu machen. Die Schweizer waren diesbezüglich eh ein bisschen zu verklemmt für meinen Geschmack. Mit einem kräftigen Fingerschnippen entsorgte ich den Zigarrenstummel im Lavendelbusch, goss mir noch ein Glas ein und zündete die nächste Zigarre an. Eine echte kubanische - und spottbillig in der Nähe des Hauptbahnhofs erstanden! Wenn meine Freunde aus Kanada mich besuchen würden, würde ich in der Lage sein, jedem von ihnen eine Zigarre zu offerieren. Die würden vielleicht Augen machen - Bob, der Mega-Banker! Ich grinste bei dem Gedanken, nahm noch einen Zug und spann den Faden ein wenig weiter. Mit dem Lohn, den ich jetzt verdiente, konnte ich mir ja so einiges leisten, was früher nicht drin lag - eine kleine Reise jedes Wochenende, die neue Garderobe, die ich mir in Frankreich erstanden hatte, Geschenke für meine Familie und Freunde in Kanada - das Leben meinte es gut mit mir in der Schweiz. Nur schade, dass es hier nicht mehr richtige Männer gab, solche, die wie meine Buddies in Kanada waren...
Der Alkohol verfehlte seine Wirkung nicht - mein Kopf wurde leichter, meine Stimmung beschwingter und meine Blase voller. Ich hatte mir soeben meine dritte Zigarre angezündet und musste dringend mal für grosse Jungs. Ich stand auf und ging zur Balkontüre, doch ich überlegte es mir anders - ein richtiger Mann muss doch nicht schön brav zum Badezimmer gehen, oder? Auch wenn dies nicht der kanadische Busch war und die nächsten Häuser nur fünf Meter entfernt waren, so würde ich mir deswegen den Abend nicht verderben lassen. Es sollte ein Männerabend sein, und Männer legen nicht ihre Zigarre weg, gehen ins Badezimmer und kommen dann zivilisiert wieder zurück - nein, was ein richtiger Mann ist, geht zum nächsten Busch oder Baum, und... naja, Sie wissen schon.
Ich machte rechtsum kehrt, ging zu den Zypressen hinüber, die drei Meter weiter vorne im Garten standen, nahm die Zigarre in den Mund und pinkelte in hohem Bogen und möglichst laut - wenn schon, denn schon (Sie wissen doch, es gibt nichts peinlicheres als in einem öffentlichen WC dazustehen, und es kommen nur drei schüchterne leise Tröpfchen raus) - den Hang hinunter.
Seien Sie ehrlich - gibt es irgendein schöneres Gefühl als dieses Gefühl der Erleichterung, wenn man endlich den Druck in der Blase los wird? - Ich schüttelte einmal kräftig, packte mein Familienglück wieder ein, nahm die durchweichte Zigarre aus dem Mund und ging zum Tisch zurück, wo Harty auf mich wartete.
Harty??!!! Was machte die denn hier?? Glutheiss spürte ich die Röte über mein Gesicht kommen. Ich stand da, hörte die Musik überlaut in meinen Ohren dröhnen, bemerkte die Zigarrenasche, die überall verstreut auf dem Boden lag, sah die Kippe meiner zweiten Zigarre gleich neben dem Eingang liegen (hatte sie sie wohl schon bemerkt??) und fragte mich nervös, wie lange sie schon zurück war. Wieso tat sich der Abgrund unter den Füssen nie dann auf, wenn man es am dringendsten gebraucht hätte?
Aber ich war ja ein richtiger Mann. Und wie ein Mann setzte ich eine unschuldige Miene auf und sagte: "Oh, hallo, bist du schon da?"
"Ja", lächelte Harty. Und fragte: "Und wo warst du eben?"
Wo war ich gewesen? Ich suchte fieberhaft nach einer Antwort. Ja, wo denn bloss? Ich forschte in ihrem Gesicht nach Anzeichen dafür, wieviel sie mitbekommen hatte. Hatte sie mich gehört, als ich mein Geschäft verrichtet hatte? Hatte sie mich womöglich sogar noch gesehen? Ich wollte nicht bei einer direkten Lüge ertappt werden, aber die Wahrheit - das werden Sie sicher verstehen - wollte ich ihr auch nicht gerade sagen.
"Ich habe mir deinen wunderschönen Garten angesehen."
Harty hatte ihr bestes Pokerface auf. Immer noch freundlich lächelnd sagte sie: "Weisst du, als ich eben Amber in den Garten rausliess, ging er erwartungsgemäss zum nächsten Baum, hob sein Bein und liess der Natur freien Lauf. Was mich ein bisschen erstaunte war, dass ich es heute zum ersten Mal, seit ich diesen Hund habe, plötzlich von zwei Seiten plätschern hörte. Nun gibt es zwei mögliche Lösungen für dieses Rätsel: Entweder hat mein Hund vor kurzem ein Upgrade durchlaufen und pinkelt neuerdings in Stereo, oder du hast meinen Garten wirklich sehr genau angesehen!"
Ich wusste nicht mehr, wohin schauen - und genau das ärgerte mich. Schliesslich war ich doch ein richtiger Mann - wieso war mir dies dann so peinlich? Aber ein cooler Witz hat noch jeden aus einer misslichen Situation gerettet: "Deine Pflanzen sahen so durstig aus..."
"Bob, darf ich dich daran erinnern, dass diese Wohnung mit einem Badezimmer ausgestattet ist? Hast du dir auch nur eine Sekunde lang überlegt, was meine Nachbarn wohl denken sollen? Erst lasse ich, alleinstehende Frau mit Freund, einen mehr oder weniger wildfremden Mann während Wochen bei mir wohnen, und dann sehen sie auch noch diesen Mann im Garten seinen Bedürfnissen nachkommen - und was, wenn dich eines der Nachbarkinder gesehen hätte?" Die ganze Zeit über blieb ihr Ton unverändert freundlich, beinahe schon geduldig - wie wenn sie mit einem kleinen Kind sprechen würde, und nicht mit einem Mann. "Bob, darf ich dich einfach bitten, so was nie wieder zu tun?"
Ich raffte meinen ganzen männlichen Stolz zusammen, räusperte mich, stellte mich breitbeinig vor Harty hin, sah ihr mit einem klaren Blick - ähnlich dem von Gary Cooper in "High Noon" - direkt in die Augen und sagte mit tiefer, selbstbewusster Stimme: "Ok." "

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