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"Eine Kolumne auf der Homepage einer Computerfirma?" Das haben wir uns auch gefragt. Doch der Mensch lebt nicht nur vom Brot alleine, wie man so schön sagt... Diese Seite wird ungefähr alle drei Wochen aktualisiert. Über Kommentare, Inputs und Kritik an die Autorin freuen wir uns sehr!

EIN KANADIER IM GARTEN
und andere Geschichten

6. TEIL


THE CANADIAN WAY

Dass alle Kanadier gnadenlos gut Eishockey spielen, ist natürlich ein Vorurteil (wenn es auch der Wahrheit sehr nahe kommt). Ich zum Beispiel spiele nur so einigermassen - dafür aber mit gnadenlos viel Begeisterung.
Als ich mich für den Aufenthalt in der Schweiz entschied, war mir von Anfang an klar, dass dies ein Verzicht auf Hockey bedeutete. Es fiel mir ausgesprochen schwer, doch ich wusste von vornherein, dass ich einige Dinge würde aufgeben müssen - meine schnelle Standleitung zum Internet, Eishockey und noch ein paar andere Dinge. Einzig der Verzicht auf Jane war wirklich nicht geplant gewesen...
Noch immer zerriss es mir das Herz, wenn ich an Jane dachte. Sie war für mich die Liebe meines Lebens - eine fantastische Frau... vielleicht würde ich eines Tages die Hoffnung aufgeben müssen. Doch noch war es nicht soweit; noch immer frohlockte ich innerlich bei jedem Email, das ich von ihr erhielt. Kaum ein Tag verging, ohne dass wir uns schrieben, und bei unseren regelmässigen Telefongesprächen liess sie ab und zu durchblicken, dass sie mich wirklich vermisste. Ich hoffte fest, dass sie es schaffen würde, zu Weihnachten herüberzufliegen - es würde zwar ein bisschen eng werden in Hartys Wohnung, aber ich wollte sie endlich wiedersehen. Wir sahen uns nach günstigen Tickets um - ich wollte die Kosten für den Flug übernehmen und hoffte auf ein Special -, doch es sah nicht sonderlich gut aus. Auch schien Jane von der Idee, bei Harty zu übernachten, nicht gerade begeistert zu sein.
Harty - immer wieder war sie mir im Weg! Je länger ich bei ihr wohnte, desto öfters wollte ich sie nur schon beim blossen Anblick auf den Mond schiessen. Seit meiner Ankunft in der Schweiz hatte mir eigentlich alles Spass gemacht - die Arbeit, meine Freundschaft mit Joey, die Landschaft, die Leute - alles, ausser Harty. Wenn es einen Grund gab, weshalb ich ab und zu ernsthaft an eine Rückkehr nach Kanada dachte, dann war sie es. Und doch war es merkwürdigerweise gerade sie, die mir immer dann, wenn ich nicht mehr weiterwusste, aus der Klemme half. Wie zum Beispiel beim Hockey.

Harty wusste um meine Freude an diesem Spiel, und so kam sie eines Tages auf mich zu und fragte: "Würde es dir Spass machen, in einem Hockeyteam mitzuspielen?"
"Was, hier in der Schweiz?" Ich war verblüfft.
"Auch in der Schweiz spielt man Eishockey", war die leicht ironische Antwort.
"Aber natürlich", beeilte ich mich zu versichern, "daran habe ich auch nicht gezweifelt. Ich glaube, ich würde gerne spielen - kommt allerdings auch auf das Team, das Niveau und den Zeitaufwand an." Ich wollte mich noch nicht festlegen.
"Ich habe einen Freund, der spielt schon seit einiger Zeit. Wenn du willst, frage ich ihn mal an, ob sein Team dich nicht aufnehmen könnte."

Eine Harty - ein Wort... Zwei Tage später kam sie wieder auf mich zu: "Urs wird heute abend bei uns vorbeischauen und dir gleich den aktuellen Spielplan vorbeibringen. Er meinte, du solltest zunächst einmal probeweise beim Training dabei sein und dann entscheiden, ob es dir gefällt. Wenn du mitmachen willst, müssten sie eine Lizenz für dich lösen - es ist also sehr wichtig, dass du dir gut überlegst, ob du auch den geforderten Einsatz leisten kannst."
Ich glaubte, ich hätte mich verhört - eine Lizenz zum Spielen? In diesem Land musste wohl alles in Regeln und Dokumenten festgehalten werden. Wie lächerlich - vor allem, wenn es um Eishockey geht!

Drei Wochen später war das Training. Meine spielerischen Fähigkeiten bewegten sich mehr oder weniger im Mittelfeld - ich freute mich darauf, zum Erfolg dieser Mannschaft beitragen zu dürfen. Die Lizenz wurde von Urs und seinem Kollegen organisiert, meine Ausrüstung grösstenteils von Kanada importiert und bei einem Ausflug in ein schweizerisches Hockeyfachgeschäft ergänzt (wobei ich hier der Wahrheit halber anmerken muss, dass die Hockeyläden in der Schweiz das Hinterletzte sind. Das Fachgeschäft war mir durch Urs wärmstens empfohlen worden, und offensichtlich hielt er es für einen respektablen Laden mit einem grösseren Sortiment. Das mochte sicher auch für schweizer Verhältnisse stimmen - schliesslich war die Schweiz im Gegensatz zu Kanada kein Land mit einer bemerkenswerten Hockeytradition -, aber verglichen mit einem kanadischen Hockeygeschäft war dies ein unterdurchschnittlich bestückter, winziger Kiosk. Die Preise waren völlig überteuert - für den Betrag, den ich hier für einen Schläger bezahlte, hätte ich in Kanada zwei von viel renommierteren Herstellern erwerben können -, und dazu kam, dass die Qualität absolut minderwertig war. Nicht einmal ein anständiges schwarzes Klebeband führte dieses Geschäft!
Harty hatte natürlich wieder einmal kein Verständnis für meine fachmännischen Vergleiche zwischen den beiden Ländern. Ich kam nach Hause, wo sie kreidebleich am Tisch sass - einmal mehr hatte sie die Nacht durchgearbeitet -, und erzählte ihr von meinen Erfahrungen (irgendjemandem musste ich es erzählen, und Jane war leider nicht da - sie hätte es auch viel besser verstanden als Harty). Sie meinte nur: "Es war sicher mühsam, die ganzen Stöcke und Dinge im Zug zu transportieren..."
"Oh, ich war nicht mit dem Zug unterwegs", beruhigte ich sie.
Merkwürdigerweise schien diese Antwort sie nicht zu beruhigen. Statt dessen fragte sie in leicht verschärftem Ton: "Wie bist du dann nach Seebach gekommen?"
Die Frage machte keinen Sinn - sie war so völlig aus dem Zusammenhang gerissen und hatte überhaupt nichts mit meiner Eishockeyausrüstung zu tun. Harty musste wirklich sehr müde sein, oder sie wurde wieder einmal krank, oder beides. Ich beschloss, dass Geduld und Verständnis angesagt waren: "Natürlich mit dem Auto."
"Mit meinem Porsche?" fragte sie.
"Mit was denn sonst? Du hast noch geschlafen, und ich dachte mir, anstatt dich zu wecken und selbstsüchtig von dir zu verlangen, dass du mich zu dem Geschäft fährst, nehme ich dir die Arbeit ab und fahre alleine dorthin." Ein wenig Stolz klang in meiner Stimme mit. "Ich habe den Schlüssel wieder in deine Jackentasche zurückgesteckt. Es macht übrigens wirklich Freude, das Auto zu fahren."
Sie blickte mich völlig fassungslos an, schüttelte den Kopf, stand auf und ging in die Küche, um etwas Brot zu schneiden, während ich von meinem Kummer mit den schweizerischen Hockeyläden erzählte. Sie erwiderte kurz angebunden: "So schlimm kann es wohl nicht sein. Du entschuldigst mich..." und ging wieder ins Bett. Wahrscheinlich war sie wirklich krank.).

Doch zurück zur Hockeyausrüstung. Das meiste hatte mir mein Bruder aus Kanada gesandt, und so war ich bestens vorbereitet.
Die ersten zwei Spiele hielt ich mich sehr zurück. Ich verfolgte die Spielweise meiner Kameraden und lernte einiges über den schweizerischen Eishockey - allerdings nichts bemerkenswertes. Beim dritten Spiel beschloss ich, dass es an der Zeit sei, den Schweizern einmal die kanadische Art zu zeigen.
Mitten im ersten Drittel hatte mich ein Spieler der Gegenmannschaft abgeblockt und äusserst unfair gefoult - und der Schiedsrichter sagte nichts dazu. 'Warte nur', dachte ich, 'dir zeige ich, was wir in Kanada mit solchen Würstchen wie dir machen.' Ich merkte mir seine Nummer und wartete ab. Ich wusste, früher oder später würde mir das Schicksal in die Hand spielen - oder vielmehr in den Schläger... Im zweiten Drittel kam der Moment, wo derselbe gegnerische Spieler direkt vor mir stand und des Schiedsrichters Aufmerksamkeit gerade anderswo weilte... Kräftiger Anlauf, kurzer Zusammenstoss, und weg war ich - das Ganze dauerte eine knappe Sekunde, und mein "Freund" krümmte sich vor Schmerzen. Meine Kameraden warfen mir zwar einen leicht entsetzten Blick zu (sie waren wohl eher für Fairplay), doch wenigstens wurde ich von der anderen Mannschaft hinfort in Ruhe gelassen - sie hatten gelernt, mich zu respektieren.

Zwei Wochen später sah es so aus, als müsste ich meine schweizerische Eishockey-Karriere schon wieder an den Nagel hängen. Urs, der mich bis anhin jedes Mal zuhause abgeholt und wieder zurück gebracht hatte, musste kurzfristig wegen einer Verletzung absagen. Er konnte auch nicht sagen, wann er wieder spieltauglich sein würde.
Harty überbrachte mir die Hiobsbotschaft - er hatte mit ihr telefoniert - und schlug vor, ich könnte doch statt dessen die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Die hatte wohl einen Vogel! Stellen Sie sich das einmal vor - die ganze Hockey-Ausrüstung im Zug und Bus hinschleppen, spielen und dann noch die ganze Ausrüstung zurückschleppen... ich schaute sie verständnislos an und wartete auf eine bessere Idee. Als nichts kam, musste ich notgedrungen etwas Eigeninitiative an den Tag legen. Ich schlug vor, ihr Auto auszuleihen. Die Antwort war vernichtend: "Ich würde dir das Auto schon geben, aber leider unterrichte ich beinahe jeden Abend und brauche es selbst."
Wütend drehte ich mich um und ging in mein Zimmer. Als ich eine Stunde später wieder herauskam, informierte mich Harty: "Ich habe dir die Zug- und Busverbindungen für das Spiel morgen herausgesucht und ausgedruckt. Das Blatt liegt auf der Bar."
Ich war immer noch stocksauer. "Eines sage ich dir, wenn ich in Zukunft mit den Öffentlichen gehen soll, verzichte ich lieber aufs Hockeyspielen!"
Harty gab keine Antwort. Ich setzte mich an den Computer und begann, ein Email an Jane zu schreiben.
Etwa zehn Minuten später sagte Harty: "Ich finde, wenn du dem Team schon zugesagt hast, solltest du auch gehen."
"Was geht dich das an?" fragte ich kalt.
"Urs ist ein guter Freund von mir, und er hat sich für dich eingesetzt. Das Team hat für dich eine Lizenz gelöst, und damit hast du jemand anderem den Platz weggenommen. Wenn du jetzt einfach kneifst, sieht das schlecht aus für Urs, und das wiederum geht mich sehr wohl etwas an. Du hast von Anfang an gewusst, dass du kein Auto hast - was hast du dir denn vorgestellt, wie du jeweils zu den Spielen kommen wirst?"
"Ich dachte, ich nehme entweder dein Auto, oder es fährt mich jemand..."
"Darauf durftest du nicht zählen. Ich kann dir nicht vorschreiben, was du tun sollst, aber ich wäre sehr enttäuscht, wenn du aussteigen würdest."
Wortlos zog ich mich wieder ins Zimmer zurück und schlug die Türe zu. Zwei Stunden später hatte ich meinen Entschluss gefasst - ich ging hinaus und packte meine Hockeysachen. Ich würde spielen - zumindest am nächsten Tag. Danach würden wir weitersehen.




BOB DER DOMPTEUR

Zwei Dinge musste man Harty einfach lassen: Erstens, sie war nicht dumm. Und zweitens, sie konnte unglaublich gut mit Hunden umgehen. Beide Komplimente habe ich ihr übrigens mehr als einmal gemacht - auch wenn ihr das erste ein eher höfliches und das zweite ein eher gezwungenes Lächeln abrang (sie litt unter einem mittleren Tierkompliment-Trauma, seit sie einmal vor vielen Jahren ihren besten Freund gebeten hatte, ihr zwei oder drei Dinge aufzuzählen, die er an ihr schätzte. Die beiden waren zu jenem Zeitpunkt bereits sechs Jahre miteinander befreundet gewesen und hatten viel Zeit miteinander verbracht. Dem Freund war spontan gerade nichts eingefallen, und als sie ihn sehr eindringlich gebeten hatte, ihr wenigstens einen guten Charakterpunkt zu nennen, hatte er ihr nach einigem Hirnzermartern zur Antwort gegeben: "Du bist tierlieb."...).

Ich hatte in den letzten drei Wochen vermehrt auf ihre Menagerie aufgepasst, während sie unterrichtete, und musste gezwungenermassen zugeben, dass die Hunde nicht ganz zu begreifen schienen, wer denn der Herr im Hause war - mit anderen Worten, solange Harty nicht da war, machten alle so ziemlich genau das, was sie wollten. Ich sah dem Treiben die ersten paar Male geduldig zu, doch letztendlich gewann mein Stolz die Oberhand - ich konnte unmöglich zulassen, dass mir diese kleinen Harty-Köter und Katzen derart auf der Nase herumtanzten! Ich entwickelte meine eigene Strategie und Erziehungsmethoden. Hier zwei Beispiele:*

Problem: Ursus, der gefrässige Kater der Familie, wartet jedesmal wie ein Raubtier vor der Türe zum Badezimmer, wo Contessa, die wunderschöne Kätzin, in Ruhe ihr Futter verzehrt. Wenn ich beim Öffnen der Türe nicht aufpasste, stürzte sich Ursus schneller als der Blitz hinein und frass Contessas Futter.
Bobs Lösung: Ich schloss Ursus für den Rest des Abends im Badezimmer ein - und zwar ohne Futter. So würde er schnell begreifen: Einmal drin, immer drin. (Sobald ich Harty nach Hause kommen hörte, liess ich ihn wieder raus - ich hatte so meine Befürchtungen, dass sie die Weisheit meiner Erziehungsmethode nicht ganz erkennen würde.)

Problem: Robin, der kleinste Köter von allen, wollte ständig mit mir spielen, und wenn ich diesem Wunsch nicht nachgab, suchte er sich eine andere Beschäftigung: er antwortete auf die Rufe des Hundes in Nachbars Garten. Die beiden konnten an einem Abend problemlos ein nervtötendes Hundegespräch durch alle Wände hindurch über mehrere Minuten führen. Einsperren in seine Box half nichts, anschreien brachte auch nichts, auf die Box hämmern stellte ihn für zwei oder drei Minuten ruhig, doch dann begann er wieder von vorne.
Bobs Lösung: Ich schickte Robin in die Box und drehte sie um, so dass er nur noch die Wand anstarren konnte. Es funktionierte. Als Harty nach Hause kam und die umgedrehte Box sah, drehte sie sie wortlos wieder zurück, liess Robin frei und fragte mich nach dem Sinn dieser Einzelhaft. Ich erklärte es ihr, doch sie glaubte an keinen Zusammenhang zwischen seinem Schweigen und dem Wandanstarren...

Dennoch - von kleinen Differenzen abgesehen schien mir Harty in dieser Zeit äusserst wohlgesinnt zu sein, und ich vermute, dass sie mich und meine Hilfsbereitschaft auch vor Joey gelobt haben muss, denn dieser überraschte mich mit dem Vorschlag, gemeinsam für ein Wochenende nach Italien zu fahren. Ich freute mich riesig - la bella Italia - so viel schon hatte ich von diesem Land gehört, so vieles liebte ich, das in diesem Land seinen Ursprung hatte - Pasta, Pizza, Verdi... und das Meer!

Am Morgen standen wir früh auf. Auf dem Spiegel fand ich einen Brief von Harty vor:

Gestern kam Robin von seinem Ausflug im Garten zurück und begrüsste mich freudig - doch zu meinem Erstaunen roch sein Atem nach Zigarren. Nun weiss ich mit Bestimmtheit, dass Robin Nichtraucher ist.
Ich weiss nicht, wen von euch beiden dies betrifft, deshalb sage ich es einfach beiden: Ich möchte euch bitten, in Zukunft den Aschenbecher zu benutzen, und zwar sowohl für die Zigarrenstummel, als auch für die Asche. Sollte es noch einmal vorkommen, dass eines meiner Tiere Zigarrenreste frisst, fliegt wer auch immer der Verursacher war endgültig zum Haus raus.
Dies mag übertrieben klingen, doch meine Freundschaft und Toleranz hört genau da auf, wo die Gefährdung der Gesundheit meiner Tiere anfängt.

Viel Vergnügen in Italien :-)

Harty

So ein Verräter!! Ich war empört. Ich mochte Robin schon vor diesem Zwischenfall nicht, aber damit hatte er es sich bei mir endgültig verspielt. Ich riss den Brief vom Spiegel, packte ihn ein und zeigte ihn Joey auf der Fahrt zur italienischen Grenze. Meinen Witzeleien über die Angelegenheit konnte Joey allerdings nichts abgewinnen - im Gegenteil, er stimmte Harty sogar noch zu! Sein Humor liess definitiv zu wünschen übrig so früh am Morgen.

*Anm. d. Red.: ACHTUNG: Bobs Erziehungsversuche sind völliger Schwachsinn, nützen nichts, schaden höchstens und sind auf keinen Fall nachzuahmen!




EINMAL ITALIEN - ABER OHNE ITALIENER, BITTE

Wir fuhren durch bis nach Parma. Bei einer Raststätte entlang der Autobahn hielten wir für einen kurzen Imbiss an. Joey fuhr mitten auf den Parkplatz und hielt direkt vor der Eingangstüre. In einer Ecke etwas entfernt bemerkte ich ungefähr 14 klar signalisierte Parkplätze, doch niemandem sonst schienen diese aufgefallen zu sein; die Autos standen kreuz und quer in der Nähe des Eingangs. Auf dem ganzen Parkplatz waren Brotreste, Schokoladenpapiere, leere Chipstüten und noch einiges mehr verstreut - der Anblick ähnelte dem einer öffentlichen Müllhalde.
Beim Aussteigen wurde ich beinahe überfahren - die Geschwindigkeitsbegrenzung von 40 km/h wurde wohl nur von Touristen eingehalten. Die Einheimischen rasten durch den Parkplatz wie Rennfahrer durch den Boxenstop. Wortreich und mit eleganten sarkastischen Wendungen geschmückt verlieh ich meinem Entsetzen Ausdruck. Joey machte eine verbiesterte Miene und marschierte ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen in die Raststätte hinein.

Die Stimmung auf der Weiterfahrt war leicht gedämpft. Ich bemühte mich, meinen Chauffeur mit einigen meiner unterhaltsamen und witzigen Geschichten aufzuheitern, doch mehr als ein höfliches Lächeln hin und wieder war ihm nicht zu entlocken.
Kurz nach sechs Uhr kamen wir in Forte dei Marmi an. Das Hotel war nicht weit vom Meer entfernt. Wir schlugen uns in einem lauschigen Restaurant in der Nähe des Strandes die Bäuche voll - Antipasto misto frutta di mare, Pizza, Tiramisł und natürlich auch zwei Flaschen Chianti - und in feuchtfröhlicher Stimmung unternahmen wir einen Verdauungsspaziergang am Strand. Untermalt vom Rauschen der Wellen und dem leichten Säuseln des Windes wanderten wir zwischen Sand, Steinen, leeren Plastikflaschen, Bonbonpapierchen, Altgummifetzen und kaputten Feuerzeugen herum. Es war furchtbar! Meine Meinung stand fest: Italien war ein wunderschönes Land, aber die Italiener ein ignorantes Volk. Wie konnten sie nur derart mit ihrer Heimat umgehen? Am besten würde man sie alle rausschmeissen und das Land verantwortungsvollen Leuten wie mir übergeben. So eine unglaubliche Verschwendung von schönen Dingen und Kultur an so ein unglaublich dummes, primitives, umweltverschmutzerisches, sorgloses Volk!! Ich begriff die Welt nicht mehr.
Der nächste Tag bescherte mir einen Ausflug in die Architektur und Geschichte dieses Landes. In Carrara, Luni und Montemarcello fanden wir Spuren der römischen und griechischen Zivilisation, bewunderten griechische Inschriften (man glaubt es kaum, aber es gibt Leute, die das auch lesen und verstehen können. Joey zum Beispiel...) und fuhren weiter zu unserem letzten Halt nach Casale Monferrato, wo wir einen Rundgang um eine alte Festung des Cardinals Richelieu machten. Wenn ich sage "um eine alte Festung", ist das wörtlich zu verstehen, denn hinein durfte man nicht. Die Festung war aus kleinen, rot-gebrannten Backsteinen zusammengefügt. In regelmässigen Abständen waren Schiessscharten herausgeschlagen worden. Vier grosse Türme verbanden den Burggraben, der in früheren Zeiten die Festung vor Eindringlingen und in der modernen Zeit vor Abfall schützte. Der Haupteingang war durch zwei grosse, gusseiserne Gatter versperrt - vermutlich, um Verschandelungen durch die Einheimischen innerhalb der Festung vorzubeugen. Katzen tummelten sich vor dem Festungstor - offensichtlich wurden sie dort regelmässig gefüttert -, und der Rasen war übersät mit Abfall und Hundekot. Der ganzen Burgmauer entlang verlief eine grünlich glitzernde Spur von Glassplittern, und die Wände der Festung waren durchzogen mit grossen Rissen und streckenweise grossräumig gefleckt mit einem undefinierbaren schwarz-grauen Farbton. An einigen Stellen fehlten die Steine, und an deren Stelle klafften grosse schwarze Löcher in der Mauer, die teilweise mit Vogelnestern und teilweise mit leeren Flaschen geschmückt wurden. Dafür war ein Haus in der Umgebung wohl um ein paar historische Backsteine reicher.
Meine moralische Entrüstung kannte keine Grenzen. "Wie können die nur alles so verlottern lassen? Das sind doch Idioten!"
Zum ersten mal seit zwei Tagen liess sich Joey zu einer längeren Rede hinreissen: "Das ist Italien, und die Italiener haben ihre guten und ihre schlechten Seiten, wie jedes andere Volk auch. Ich liebe dieses Land und dieses Volk, und ich akzeptiere sie so, wie sie sind. Ich will kein Wort mehr von deinem Gejammer hören!"
Ich versuchte zu schlichten. In Erinnerung an das gute italienische Essen und meinen geliebten Verdi schaffte ich es, ein grosses Mass an Begeisterung in meine Stimme zu legen, als ich dem Frieden zuliebe einen fairen Kompromiss vorschlug: "Ich liebe dieses Land ja auch, sehr sogar - aber ohne das Volk. Kann es denn nicht ein Italien ohne Italiener geben?"

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