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"Eine Kolumne auf der Homepage einer Computerfirma?" Das haben wir uns auch gefragt. Doch der Mensch lebt nicht nur vom Brot alleine, wie man so schön sagt... Diese Seite wird ungefähr alle drei Wochen aktualisiert. Über Kommentare, Inputs und Kritik an die Autorin freuen wir uns sehr!

EIN KANADIER IM GARTEN
und andere Geschichten

5. TEIL


DAS SPIEL, DAS WIE DAS VOLK IST

Harty und ich hatten einen wunderschönen Tag an der frischen Luft in den Bergen verbracht. Müde, aber froh gestimmt sassen wir in der Küche - ich mit einem Glas Rotwein, sie mit einem Kaffee -, als sie mich fragte: "Möchtest du gerne das Schweizer Nationalkartenspiel 'Jass' erlernen?"
Kartenspiele waren mir nicht fremd - in Kanada verbrachten wir oft Abende mit Freunden beim Kartenspiel. "Ja, wieso nicht?"
Ein Leuchten ging über ihr Gesicht - ich hatte ihr mit dieser Antwort offensichtlich eine grosse Freude bereitet. Beschwingt zog sie - aus dem Nichts, wie es schien - ein nigelnagelneues Kartenspiel hervor, riss innert einskommafünf Sekunden die Plastikhülle weg und fächerte die Karten mit der rechten Hand auseinander. "Kennst du diese Karten?"
"Die sehen aus wie Pokerkarten."
"Ja, aber es gibt ein paar Unterschiede. Es fehlen zum Beispiel die Karten von zwei bis fünf, die tiefste Karte ist die Sechs. Es gibt auch keine Joker..." Sie stockte und blickte mich zweifelnd an. "Bist du sicher, dass du es lernen willst? Es wird noch ziemlich kompliziert werden..."
"Kein Problem!" antwortete ich eher kühl.
"Gut!" Erleichtert lächelte sie mich an. "Kennst du die Reihenfolge?"
"Sechs, sieben, acht, neun, zehn, Junge, Dame, König, As", leierte ich herunter.
"Perfekt! Also, ich verteile jetzt die Karten, jeder erhält zwölf Stück. Der Rest bleibt in der Mitte. Und dann spielen wir - immer die höhere Karte besiegt die tiefere. Und du musst immer die gleiche Sorte spielen wie die, die ausgespielt wurde, wenn du kannst."
Das war ja kinderleicht! "Ist das schon alles?" fragte ich selbstbewusst.
"Nein, da kommt noch viel mehr. Aber ich denke, wir sollten dies Schritt für Schritt aufbauen."
Hielt die mich für leicht debil?
"Ich glaube, ich habe schon kompliziertere Spiele gespielt als euren Jass. Vielleicht können wir uns ein bisschen Zeit ersparen, wenn du mir alle Regeln gleich zu Beginn erklärst?" schlug ich leicht süffisant vor.
"Bist du sicher?" Ihr Blick sprach Bände. Ganz offensichtlich zweifelte sie an meinem Verstand.
"Klar bin ich sicher!"
"Nun denn", sie holte tief Luft, "wenn du darauf bestehst... wie ich sagte, die höhere Karte sticht immer die tiefere. Das stimmt auch meistens, ausser wenn du Trumpf hast. Dann wird eine Sorte zum Trumpf erklärt, und diese Sorte sticht alle anderen Sorten." Sie hielt kurz inne.
"Kein Problem, alles klar!" versicherte ich ihr. Wir hatten in Kanada auch ein Spiel mit Trumpf. Und schliesslich war ich ja nicht blöd.
"Gut. Ausserdem ist in Trumpf die Reihenfolge ein bisschen anders - der Junge ist höher als alle anderen Karten."
Auch diese Regel war für meinen männlichen Verstand leicht nachzuvollziehen.
"Und die Neun", fuhr sie fort, "die Neun von Trumpf ist die zweithöchste Karte im Spiel und heisst Nell".
Wie bitte? Nell? Bisher hatte ich im Glauben gelebt, Nell sei ein preisgekrönter Film mit Jodie Foster. Was hatte denn der mit jassen zu tun? Ich versicherte mich, dass ich das Ganze richtig verstanden hatte: "Also ist die Reihenfolge Junge - Neun - As - König - Dame?"
"Genau!" Harty schien hocherfreut über den Lernprozess ihres kanadischen Schülers. "Aber nur bei Trumpf. Bei allen anderen Sorten bleibt die Reihenfolge unverändert. Sollen wir mal eine Runde so spielen?"
"Sind denn das jetzt alle Regeln?"
"Nein, noch nicht ganz..." Schuldbewusst blickte sie mich an. "Es fehlen noch drei oder vier..."
Etwas pikiert sagte ich: "Du darfst mich ruhig mit allen gleichzeitig konfrontieren. Ich bin schliesslich erwachsen."
"Ganz wie du willst. Du weisst ja, wie ich vorhin gesagt habe, Trumpf sei höher als alle anderen?"
"Ja?"
"Das stimmt aber nur, wenn man nicht Uuuuu oder Ooaaaa spielt."
"Wie bitte??!" Deutsch konnte ich in der Zwischenzeit einigermassen verstehen, aber mit den Gurgellauten der schweizerischen Ureinwohner (auch unter dem Namen "Schwyzerdütsch" bekannt) hatte ich immer noch meine rechte Mühe.
Sie wiederholte es, diesmal etwas langsamer und sehr deutlich: "Undenufe oder Obenabe. Das bedeutet 'von unten hinauf oder von oben herab'."
Leicht frustiert fragte ich: "Und was ist das schon wieder?"
"Beim Obenabe gibt es keinen Trumpf; es ist also sehr einfach. Immer die höhere Karte sticht die tiefere, nur dass die Achten acht Punkte zählen - auch wenn sie deshalb nicht mehr stechen können."
Langsam beschlich mich ein Verdacht...
"Beim Undenufe dagegen", fuhr sie mit ihren Erläuterungen fort, "da ist die tiefste Karte die beste, und das As die schlechteste. Die Sechsen zählen elf Punkte, das As null, aber die Achten sind immer noch acht Punkte, und Trumpf gibt es auch nicht."
Der Verdacht erhärtete sich langsam zur Gewissheit - sie wollte mich wohl vera...? Misstrauisch schaute ich sie an. War das wieder einer dieser unmöglichen schweizerischen Scherze? Je länger Harty erklärte, desto mehr konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, in einem abstrakten Film mit leichtem Luis de Funès-Touch gelandet zu sein.
Doch in aller Ernsthaftigkeit fuhr Harty fort: "Dann gäbe es noch das Wyse - da kannst du Punkte machen, bevor du überhaupt das erste Mal stichst. Wenn du die Karten zu Beginn verteilt bekommst, kontrollierst Du sie, und wenn du drei in einer Reihe hast - oder mehr, mehr ist immer besser - und von der gleichen Farbe - wobei mit Farbe aber nicht etwa 'rot' oder 'schwarz' gemeint ist" - was zum Teufel denn sonst?? fuhr es mir durch den Kopf - "sondern die Sorte, dann kannst du das sagen und erhältst dafür Punkte. Vier gleiche Figuren ist auch sehr gut - wie beim Poker. Aber erst von der neun aufwärts - übrigens auch dann, wenn du Undenufe spielst, ausser, dass du da vier Sechsen angeben kannst, dafür aber keine vier As. Wichtig ist, dass du das erst angeben darfst, wenn du die erste Karte spielst, aber noch bevor derjenige nach dir seine erste Karte spielt - sonst gilt es nicht. Und wenn du weniger zum wysen hast als ein anderer, zählen seine Karten und deine nicht, ausser ihr spielt im selben Team..."
In meinem Kopf drehte sich alles, ich sah nur noch Neunen mit Herzen und Karos mit schweizer Flaggen herumtanzen, ausser es waren europäische Flaggen, und vor mir sah ich einen Telefonverkäufer aus der Vergangenheit wieder auftauchen, der mir mit erhobenem Finger erklärte, dass ich das Natel nur mit einer Arbeitsbewilligung kaufen könne, ausser es sei die Arbeitsbewilligung, die ich hatte... Ich rang nach Luft und griff verzweifelt nach meinem Rotwein, nur dass es keiner war, sondern... ausser...
"BOB!" Harty schüttelte mich kräftig an den Schultern und fächerte mir besorgt Luft zu. "Bob, wollen wir nicht doch mit einem einfachen Spiel 'Höhere sticht niedere' beginnen und uns langsam vorarbeiten?"
Ich gab mich geschlagen. "Du hättest mich ja auch warnen können, dass euer Kartenspiel genauso ist wie ihr! Ihr Schweizer seid doch in allem gleich - etwas ist genau so, ausser es ist anders, und auch wenn man etwas hat, hat man es noch lange nicht wirklich..."




VIVE LA DIFFERENCE

"Kannst du mir mal bitte den Schraubenzieher hinüberreichen?"
Der Sonntag war ruhig verlaufen, das Wetter gerade so mittelmässig - der Herbst zeigte sich von seiner launischen Seite. Ich war nun schon fast zwei Monate in der Schweiz, und in Sachen Arbeitsbewilligung hatte sich noch herzlich wenig getan. Joey meinte zwar immer wieder, die BS werde sich schon darum kümmern, doch so lange ich auch wartete, es tat sich einfach nichts. In meiner Sorge hatte ich mich an Harty gewandt, und sie meinte, vielleicht hätte ich eher Chancen in der EDV-Branche - da seien gute Leute wirklich gesucht. Sie hatte sich auch bereit erklärt, mir ein bisschen was beizubringen, und an jenem Sonntag zeigte sie mir, wie man einen PC zusammenbaut (nicht, dass ich das nicht schon gewusst hätte).
Ich reichte ihr das gewünschte Werkzeug und fragte: "Wieso ist der Stecker an der Harddisk nicht so breit wie der am CD-Rom?"
Harty warf einen Blick darauf und erklärte: "Das ist ein SCSI-CD-Rom. Sind die in Amerika sehr verbreitet?"
Da! Sie hatte es schon wieder getan! Einmal mehr hatte sie es geschafft, mit einem einzigen Satz meinen gesamten Sonntag nachmittag zu ruinieren. Eigentlich sollte ihr Spitzname ja "Terminator-Harty" sein...
Ich warf ihr einen bösen Blick zu und sagte langsam: "Wie bitte?"
"Ich fragte, ob SCSI sehr üblich sei in Amerika", wiederholte sie.
War diese Frau wirklich so blöd oder beleidigte sie mich absichtlich? Ich war mir in diesem Moment nicht so sicher. Also antwortete ich: "Ich weiss nicht. Ist es denn bei euch in Deutschland sehr verbreitet?"
Einen kurzen Moment blickte sie mich verständnislos an, dann ging ein Schimmer der Erkenntnis durch ihre Augen: "Ach so. Was ist denn so furchtbar daran, wenn ich dich Amerikaner nenne?"
"Ganz einfach - ich bin kein Amerikaner. Ich bin KANADIER, und nicht AMERIKANER. Versteh das doch bitte endlich." Meine Stimme troff vor verachtender Ungeduld.
"Aber du lebst doch auf dem Kontinent Amerika - genauso, wie ich auch Europäerin bin."
Dies war nun definitiv eine der ekelhaftesten Eigenschaften, die Harty vorzuweisen hatte: mit napoleonischer Zielstrebigkeit und Logik konnte sie eine Diskussion führen, bis sich ein Sinn im Diskutierten herauskristallisierte... durch einschlägige Erfahrungen vorgewarnt, fiel ich schon gar nicht erst auf diese Masche herein. Elegant ignorierte ich ihren Einwand und intonierte voller Stolz: "Jeder, aber auch absolut jeder Kanadier - vor allem aber die französischsprachigen - werden auf die Barrikaden gehen, wenn du sie Amerikaner schimpfst. Die Amis möchten uns zwar schon lange ihr eigen nennen, aber wir werden nicht nachgeben, und wenn es sein muss" - an dieser Stelle stand ich von meinem Stuhl auf und nahm Haltung an - "würden wir alle dafür in den Krieg ziehen und an vorderster Front für unsere Individualität und Unabhängigkeit kämpfen!"
Harty schien von meinem patriotischen Schlachtruf nicht sonderlich beeindruckt. Sie schraubte das Gehäuse an den PC und fragte: "Was ist denn so schlimm an den Amerikanern?"
"Es sind alles Idioten." Das wusste doch jedes Kind!
Harty hielt in der Arbeit inne und warf mir einen erstaunten Blick zu. Dann schraubte sie weiter und meinte ruhig: "Und worauf begründest du diese Aussage?"
"Weil sie Idioten sind!" erklärte ich mehr lakonisch als eloquent.
Sie war nun fertig mit dem Gehäuse (und mit dem Gespräch, wie ich hoffte). Schweigend schloss sie den PC an und startete ihn auf. Doch meine Hoffnung wurde durch ihren nächsten Satz schlagartig zunichte gemacht.
"Bob", nachdenklich schaute sie mich an, "du bist doch ein intelligenter, denkender Mensch. Sicherlich hast du auch deine Gründe, wenn du ein so umfassendes Pauschalurteil abgibst. Alles, was ich möchte, ist, diese Gründe erfahren. Verstehst du das?"
Ihre Bemerkung zu meiner Intelligenz verfehlte die Wirkung nicht; für einen kurzen Moment glätteten sich meine gesträubten Federn und ich versuchte, meine Aussage etwas zu präzisieren: "Denk doch mal nach, Harty. Die Amerikaner haben kulturell einfach nichts zu bieten, sie sind kulturelle Volltrottel!" So! Spätestens nach diesem Argument könnte man annehmen, dass sie den Inhalt meiner Aussage begriffen haben und Ruhe geben würde. Doch weit gefehlt - Napoleon-Harty liess nicht locker.
"Gut, ich kann verstehen, dass dieses junge Volk in deinen Augen vielleicht nicht so viel Kulturelles zu bieten hat, auch wenn es in der Kultur der Ureinwohner Amerikas noch einiges zu lernen gäbe. Aber deswegen gleich ein ganzes Volk zu Idioten abzustempeln, wäre doch sicher ein wenig voreilig - was ist zum Beispiel mit den vielen Resultaten, die sie in der Physik, Astronomie, Quantenphysik und überhaupt erzielt haben? Wenn ich an Stephen Hawking und andere denke - da gibt es viele äusserst intelligente Leute, die mehr auf dem Kasten haben als du und ich es uns je erträumen könnten."
Nun war ich definitiv sauer. "Du kannst es wohl nicht lassen! Du bist schlicht unfähig, eine Bemerkung einfach auf sich beruhen zu lassen, oder?"
Mit der Hartnäckigkeit eines kleinen Jagdterriers machte Harty ihrem Namen wieder einmal alle Ehre. In ihrem höflichsten Tonfall fragte sie zurück: "Ist es denn nicht üblich, dass man in einer Diskussion nachfragt, wenn man mit etwas nicht einverstanden ist? Du kannst doch nicht eine solche Pauschalverurteilung herauslassen, ohne eine Begründung zu haben."
"Und wieso nicht?? Muss man denn immer alles begründen?"
"Nicht immer, Bob. Aber bei solchen Behauptungen eigentlich schon..."
Mein von Natur aus höfliches und rücksichtsvolles Naturell hatte mich veranlasst, dieser Diskussion bereits viel zu lange beizuwohnen.
"Ihr könnt doch nicht allen Ernstes erwarten, dass man zu allem, was man sagt, auch noch was überlegt hat!! Wo käme man denn da hin? Wie könnt ihr Leute motivieren, überhaupt noch an irgendeiner Diskussion teilzunehmen, wenn sie ihre Aussagen auch noch begründen können sollen?!"
Mit diesen Worten verschwand ich einmal mehr in mein Zimmer, wo ich mich in das einzige vernünftige Buch vertiefte, das ich bisher in der Schweiz gefunden hatte: "Surviving in Switzerland".*

*Anm. d. Red: "Surviving Harty" war leider schon ausverkauft... ;-)

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